Der Herbst, in dem alle Räder still standen

Die großen Streiks gegen die Teuerung im Herbst 1950 waren die letzte große Massenstreikbewegung in Österreich. Was wir daraus lernen können, zeigt Konstantin Korn.

Uns wird gern erzählt, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg nur deshalb möglich war, weil alle an einem Strang gezogen haben. Die Nachkriegsgeschichte wurde so zu einer wirtschaftlichen & sozialen Erfolgsstory, die uns Wohlstand, sozialen Frieden und politische Stabilität garantierten – so die offizielle Darstellung. In Wirklichkeit wurde der Wiederaufbau vor allem auf Kosten der Beschäftigten finanziert.

Wie prekär die Lebensverhältnisse der ArbeiterInnen waren, zeigt sich daran, dass der durchschnittliche Kalorienverbrauch bis 1953 deutlich unter dem Niveau des Krisenjahres 1937 lag! Dafür sorgten die Lohn-Preis-Abkommen (LPA), mit denen die Reallöhne niedrig gehalten wurden. Während die Gewerkschaften Lohndisziplin befolgten & auf Reallohnerhöhungen verzichteten, erhöhten die Unternehmen aber weiterhin die Preise. Mit dem 4. LPA im Herbst 1950 eskalierte die Situation, was zur größten Streikwelle der Nachkriegsgeschichte führte.

Der „Preistreiberpakt“

Die im Radio verbreitete Nachricht, Regierung und Gewerkschaft hätten sich auf einen neuerlichen Lohn-Preis-Pakt geeinigt, schlug am Wochenende des 23. & 24. September wie eine Bombe ein. Brot kostete nun 2,40 Schilling (vorher 1,90 öS), Semmeln 27 Groschen (vorher 17), Mehl 2,98 öS statt 1,82 öS. Der Strompreis stieg um 42 Prozent. 

Der geplante Lohn-Preis-Pakt sah zwar eine Erhöhung der Löhne und Gehälter um 10 Prozent vor, aber die Preise sollten erneut um 20-30 (!) Prozent steigen. Als am Montag die Menschen zur Arbeit kamen, war die Stimmung am Brodeln. 

Als die ArbeiterInnen am Morgen in die Betriebe kamen, entbrannten hitzige Debatten. Selbst als die Sirenen heulten & zur Arbeit riefen, wurde weiterdiskutiert. In der VOEST war die Empörung unter den Arbeitern so groß, dass die gewerkschaftlichen Vertrauensmänner einen einstündigen Warnstreik beschlossen. Beschwichtigungsversuche des sozialistischen Betriebsrats verhallten wirkungslos. Mit dieser explosiven Stimmung in der Arbeiterschaft hatte niemand gerechnet.

Der ÖGB warnte in einem Aufruf vor Kampfmaßnahmen: „Streiks sind im gegenwärtigen Zeitpunkt zwecklos und schädigen die Interessen der Arbeiter und Angestellten…“ 

Am Tag darauf sollte der Ministerrat den Lohn-Preis-Pakt offiziell absegnen. Als am Ballhausplatz die Minister zusammenkamen, zogen gleichzeitig 16.000 ArbeiterInnen auf den Stadtplatz von Steyr. Die Industriestadt war eine kommunistische Hochburg. Am Morgen hatte sich die Frühschicht spontan geweigert die Arbeit aufzunehmen. Binnen einer Stunde stand das gesamte Werk still. Der Streik war eine Tatsache, bevor noch die Betriebsräte darüber beraten konnten. 

In Linz dasselbe Bild. 10.000 VOESTler marschierten Richtung Hauptplatz, und ihnen schlossen sich spontan die Belegschaften diverser ÖBB-Betriebe, der Stickstoffwerke usw. an. Nur mit Mühe wurde die Menge vom Sturm auf das Rathaus abgehalten.

Flächenbrand

Der Kampf breitete sich zu diesem Zeitpunkt wie ein Flächenbrand aus. In Wien marschierten Belegschaften von 158 Betrieben aus allen Arbeiterbezirken Richtung Innenstadt, wo die Regierung tagte. Eine gewählte Delegation der streikenden Betriebe wurde aber nicht zum Kanzler vorgelassen, was die Stimmung erst recht anheizte. Es kam zu Verkehrsblockaden und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Im Industriegebiet Neunkirchen-Ternitz war die 3.000-köpfige Belegschaft von Schoeller-Bleckmann die treibende Kraft des Streiks. Mit einem Demozug von Fabrik zu Fabrik weiteten sie wie einst im großen Jännerstreik 1918 die Streikwelle aus. Dieselbe Dynamik gab es in Wien in den Arbeiterbezirken Floridsdorf & Favoriten.

In Graz war der Ausstand nun ebenfalls flächendeckend. Hier ging die Polizei aber besonders gewaltsam vor. Das Streikkomitee mit Vertretern aller Großbetriebe wurde überfallen und alle seine Mitglieder verhaftet. Daraufhin wurde ein Sonderkomitee gegründet, dessen Sprecher die Polizei wissen ließ: „Wenn unsere Arbeitervertreter bis zum Abend nicht wieder in unserer Mitte sind, dann holen wir sie selber aus den Zellen, und das wird für Sie kein Honiglecken werden!“ Am Abend waren alle Kollegen wieder auf freiem Fuß. In Linz forderten die Streikkomitees die Absetzung des ÖGB-Präsidenten Johann Böhm und dass die Arbeiterführer wie Arbeiter zu leben haben und das tun sollen, was die Arbeiter von ihnen verlangen. In den Streikleitungen übernahmen immer mehr jene das Wort, die sich für einen entschlossenen Kampf aussprachen. In vielen Fällen waren dies KommunistInnen.

Die Rolle der KPÖ

Die KPÖ-Führung vertrat in dieser kritischen Situation aber eine folgenschwere Position. Man solle die Streiks unterbrechen, denn man brauche Zeit, um einen Generalstreik für Anfang Oktober vorzubereiten. Der wahre Grund für diese Herangehensweise dürfte aber gewesen sein, dass der Streik nicht den wirtschaftlichen & außenpolitischen Interessen der Sowjetunion entsprach.  

Jedenfalls wurde der Streik auf Initiative der KPÖ unterbrochen, wodurch der Bewegung die Dynamik genommen wurde. Damit erhielt die Regierung die Chance, wieder die Initiative zu übernehmen. Allen voran die SPÖ-Minister erfanden nun das Märchen vom „kommunistischen Putschversuch“. Die öffentliche Meinung stand von nun an ganz im Zeichen einer üblen antikommunistischen Propaganda, die Hand in Hand ging mit Verhaftungen von Streikführern – gestützt auf ein gewerkschaftsfeindliches Gesetz aus der Zeit der Monarchie! 

Am 30. September war die Floridsdorfer Lokomotivfabrik Schauplatz der „Gesamtösterreichischen Betriebsrätekonferenz“, wo ein neuer Streik beschlossen werden sollte. 2.417 Delegierte waren gekommen, 800 von ihnen waren sozialistische Betriebsräte. Die Delegierten waren in hunderten Betrieben auf Vollversammlungen gewählt worden. 

Die Konferenz forderte die Zurückziehung der Preiserhöhungen oder eine massive Erhöhung der Löhne, und Pensionen sowie einen gesetzlichen Preisstopp. Der Regierung wurde bis 3. Oktober ein Ultimatum gestellt, ansonsten würde am 4. Oktober in ganz Österreich der Streik erneut beginnen. Eine politische Perspektive zum Sturz der Regierung zeigte die KPÖ nicht auf. 

Der „Oktoberstreik“

Die Tage bis zum 4. Oktober waren geprägt von einer unvorstellbaren Hysterie über die angeblichen Putschpläne der KPÖ. Der erste Streiktag zeigte bereits, dass diese Propaganda Wirkung hatte. In Zentren der Streikbewegung, wie Donawitz und Steyr, brach die Gendarmerie den Streik. 

In vielen Fällen kamen die Schlägertrupps von Franz Olah, dem Vorsitzenden der Bauarbeitergewerkschaft, die mit Holzprügeln auf die Streikenden einschlugen. Später gab Olah offen zu, dass seine Leute von der US-Besatzungsmacht Geld bekommen hatten. 

Am Abend des 5. Oktober wurde der Streik durch einen Beschluss einer neuerlichen Betriebsrätekonferenz mit 400 TeilnehmerInnen abgebrochen. Ein Generalstreik war keine realistische Option mehr. Die Niederlage war besiegelt.

Sozialpartnerschaft

In der Folge wurden unzählige kommunistische Gewerkschafter aus dem ÖGB ausgeschlossen. Die demokratische Mitbestimmung in den Betriebsräten und Gewerkschaften wurde auf ein Minimum reduziert.

Die „Sozialpartnerschaft“ galt nun als unumstößliches Prinzip: die ständige Koalition von Kapital und der sozialdemokratischen Führungsriege, die die Ausschaltung demokratischer Diskussion & Entscheidungsfindung in den Arbeiterorganisationen voraussetzt.

Uns sollte bewusst sein, dass die heutige Politik der Gewerkschaften nichts „typisch Österreichisches“ ist, sondern das Ergebnis einer schweren Niederlage der bis dahin sehr kämpferischen Arbeiterbewegung war. Es ist kein Naturgesetz, dass wir ständig unsere Interessen den Kapitalinteressen unterordnen. Solange die Wirtschaft boomte, konnten auch die ArbeiterInnen ihren Lebensstandard verbessern. Aber diese Zeiten sind nun endgültig vorbei, und damit ist die Sozialpartnerschaft auch tot.

Unsere Aufgabe heute ist es, an den kämpferischen Traditionen der österreichischen Arbeiterbewegung wieder anzuknüpfen & die Betondecke der sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung zu sprengen.

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